Der Ring

Es war einmal ein überaus mächtiger König, der es sich leisten konnte, die Weisesten des Landes als einfache Diener in seinem prächtigen Palast zu beschäftigen. Jeden Tag aufs Neue stellte er ihr Können mit kniffligen Aufgaben auf die Probe.


Eines Tages rief er die Weisen zu sich und sprach zu ihnen: “Nun bin ich so mächtig. Mein Königreich erstreckt sich über viele Tage zu Pferd. Und doch werde ich nicht einmal meiner eigenen Gefühle Herr. Daher wünsche ich mir etwas, das mich glücklich macht, wenn ich unglücklich bin und das mich unglücklich macht, wenn ich glücklich bin. So werde ich endlich zum Herrscher über meine Gefühle.”


Die Weisen zogen sich in ihre Gemächer zurück und suchten nach einer Antwort für diese schwierige Aufgabe. Als sie sich am folgenden Tag wieder trafen, wusste keiner von ihnen eine Lösung. Doch einer von ihnen erinnerte sich, dass es noch einen Einsiedler in den Bergen gab, der sich nicht vom König hatte kaufen lassen. Sie beschlossen, ihn am nächsten Tag aufzusuchen und um seinen Rat zu bitten.


Am frühen Nachmittag gelangten die Diener des Königs zu seiner bescheidenen Holzhütte. Freundlich empfing sie der Weise mit den Worten: „Ich habe euch bereits erwartet. Kommt nur herein.“ Verwundert sahen sich die Weisen an. Woher konnte der Greis das wissen? Sie erzählten von der schwierigen Aufgabe des Königs und baten um Rat. Der Einsiedler schmunzelte und zog einen schlichten schneeweißen Ring von seinem Finger: „Hier ist die Lösung eures Problems. Bringt eurem Herrn diesen Ring. Er soll ihn von nun an immer tragen. Er wird euren König glücklich machen, wenn er unglücklich ist und unglücklich, wenn er glücklich ist. Doch der Ring wird seinen Zauber erst in einer ausweglosen Situation entfalten.''


Die Weisen bedankten sich bei dem Alten und brachen sogleich auf. Am späten Abend erreichten sie den Palast. Der König wartete schon voller Ungeduld auf seine Diener. Sie gaben ihm den schneeweißen Ring und erläuterten Botschaft des Einsiedlers. Er streifte das schlichte Schmuckstück über seinen rechten Mittelfinger und war schon gespannt auf dessen Zauberkräfte. In den darauf folgenden Tagen und Wochen war der König immer wieder glücklich oder unglücklich – aber nie so sehr, dass es sich ausweglos anfühlte. So kam der Ring nicht zum Einsatz. Nach einigen Monaten hatte der König ihn fast schon vergessen. 


Eines Tages passierte etwas, womit der mächtige Herrscher nicht gerechnet hatte. Sein Land wurde von den Truppen seines größten Feindes durch einen Überraschungsangriff besetzt. Dem König gelang es in letzter Sekunde zu fliehen. Eine Horde Reiter verfolgte ihn in einer wilden Hetzjagd. Der König verlor zu allem Überdruss auch noch sein Pferd und rannte schließlich mit letzten Kräften um sein Leben. Als er an einen Abgrund gelangte, hörte er bereits das wilde Geschrei seiner Verfolger. Aus dem Abgrund fauchten ihm zwei hungrige Löwen entgegen. Er dachte verzweifelt: „Jetzt hat wohl mein letztes Stündchen geschlagen.“ Das stimmte ihn sehr unglücklich – so sehr, dass er keinen Ausweg mehr sah. Da erinnerte er sich an seinen magischen Ring. Nun war es an der Zeit, ihn um Hilfe zu bitten. Nur einen Augenblick bevor ihn der aufgewühlte Sand der Pferde einhüllte, las er die goldene Gravur, die nun auf dem Ring erschien: „Auch das geht vorüber!“ 


Der König spürte, wie alle Angst von ihm fiel … Die Reiter hatten den König doch tatsächlich im aufgewirbelten Wüstenstaub übersehen. So konnte er unbemerkt entkommen. “Welch ein Glück!” dachte sich der König. “Ein wirklich beeindruckender Ring.”


Er trommelte kurz darauf seine versprengten Soldaten zusammen und konnte sein Land wieder zurück erobern. Der Triumph wurde mit einem rauschenden Fest in seinem Palast gefeiert. Um Mitternacht erhellte ein farbenfrohes Feuerwerk den Himmel. Der König hatte das Gefühl, vor Glück sterben zu können. So gerne hätte er diesen Augenblick für immer fest gehalten. Da fiel ihm abermals sein Zauberring ein. Und wieder zeigte sich die  goldene Gravur: „Auch das geht vorüber!“


Der König spürte, wie ihn eine tiefe Gelassenheit erfüllte. Der Ring hatte ihn tatsächlich aus der Abhängigkeit von seinen Gefühle befreit. Sie waren noch immer da - aber er identifizierte sich nicht mehr mit ihnen. Nun wusste er: Das größte Unglück und das höchste Glück konnten ihm nichts mehr anhaben. Er war nun Herr seiner Gefühle. Diese Macht bedeutete ihm weit mehr als alle Königreiche dieser Welt. In diesem Moment leuchtete die Gravur des weißen Rings nochmals auf. Nun zeigte sich ein goldener Schriftzug, der nicht mehr verschwand: „Liebe!“


Der König erkannte sogleich die Bedeutung dieser Aufforderung. So lange sein liebloser Verstand die Regie übernahm, war der König seinen Gefühlen hilflos ausgeliefert wie ein Schiff einem wilden Sturm. Mit seinem liebevollen Herzen konnte ihm das nicht passieren. Es blieb immer in Ruhe wie ein Schiff auf stiller See. Und er hatte es in der Hand. Er konnte sich in jedem Augenblick seines Lebens für sein liebevolles Herz entscheiden.


Von diesem Tag an benötige der König keine weisen Diener mehr und entließ sie in die Freiheit. Er regierte voller Liebe und Weisheit, denn er ließ sich nicht mehr durch aufbrausende Gefühle wie Gier, Wut oder Angst in die Irre führen. Seine durch den Ring entdeckte Macht über die eigenen Gefühle wollte er mit allen Menschen teilen. Er bat die Weisen, alle Lehrer im Lande auszubilden. Gerne kamen sie diesem Wunsch nach, denn der Ring hatte auch sie in seinen Bann gezogen. Jeder Bürger – jeder Erwachsene aber auch jedes Kind – sollte einen Ring mit der Gravur „Liebe!“ erhalten und eine Anleitung. wie dieser zu nutzen sei. Und schließlich machte sich der König selbst auf den Weg. Er besuchte alle Herrscher, Freunde wie Feinde, um seinen kostbarsten Schatz mit ihnen zu teilen. 


Interessiert beobachtete der Einsiedler – der in Wirklichkeit der Zauberer war – von seinem Berg aus, wie der Ring die Menschen verwandelte. Sie konnten ihre Verbundenheit mit allen Menschen und der Natur spüren. Und nun entdeckten Sie auch ihn – den Zauberer – hinter allem, was ist. Sie erkannten seine grenzenlose bedingungslose Liebe. Das erfüllte die Menschen mit tiefer Dankbarkeit.


Der Zauberer betrachtete sein Werk voller Glückseligkeit, denn er hatte endlich ganz viele Freunde, mit denen er seine Freude und Liebe teilen konnte. 


Copyright 2015 Janos Hübschmann


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